Klappentext

An einem frühen Morgen, als der Tag eine Handbreit über dem Horizont steht, begegnet Nika Regenwein, von der alle sagen, sie sei nichts Besonderes, Filli, dem Fink. Er gehört zum uralten Vogelvolk der Huhlis, das die Gedanken der Menschen aller Zeiten sammelt, denn Gedanken sind kostbar. Die Vögel ernennen Nika zum Huhli, und sie darf Menschen, die nicht weiterwissen, helfende Gedanken schicken. Aber als Nika die Huhlis versehentlich verrät, müssen sie sich von ihr trennen. Ihr bleibt jedoch das tröstliche Wissen, dass jeder Mensch etwas Besonderes ist, auch sie, Nika Regenwein.

Pressestimmen

"Margrit Irgang gelingt es, Fantastisches gleichsam natürlich aus Realem wachsen zu lassen. Komik, Humor und Satirisches entstehen in diesem ständigen Kontakt von Alltag und Irrealität. Eine lebhafte und treffsichere Schreibweise bewahrt die Geschichte eines kleinen, unverstandenen Mädchens vor Larmoyanz. Das Gedankenland mit seinen Verwaltern, den weißen Vögeln, wird nicht zur himmlischen, übermenschlichen Zone, sondern humorvolles Abbild alltäglicher Unvollkommenheiten, an der letztendlich unsere Gedanken den größten Anteil haben."
Barbara von Korff-Schmising, Eselsohr

"Die erste und einzige Geschichte vom Gedankenland' beeindruckt nicht nur durch die phantasievolle Handlung, sondern vor allem durch die Sprachbilder und Vergleiche. Ein sehr empfehlenswertes Buch." Hamburger Abendblatt

"Margrit Irgang erzählt eine sehr lyrische, poetische Geschichte, die von wunderschönen Bildern lebt und trotzdem ihre Botschaft prosaisch und direkt vermittelt. Sehr empfohlen." BLS Informationsdienst

Leseprobe

Als sie sich aus dem Fenster beugte, sah sie ihn sofort, obwohl er im hellen Tageslicht mit dem weißen Gefieder fast aussah wie ein gewöhnlicher Vogel. Er saß eingezwängt zwischen zwei Rosenbüschen und warf einen missbilligenden Blick hinauf.

"Unangenehmes Gelände", krächzte Raka. "Möchte wissen, was Menschen an Blumen mit Dornen finden. Haben natürlich nie selber dringesessen. Selbstsüchtige Rasse."

"Pst, Raka", flüsterte Nika. "Meine Mutter arbeitet nebenan. Sie könnte dich hören."
"Keiner denkt an die armen Vögel", sagte Raka in unverminderter Lautstärke.
"Rosen, Brombeeren, Vogelscheuchen. Meterweise Gemeinheiten. Ein feiner Garten."

"Hat Hull dich geschickt?" fragte Nika und betrachtete glücklich den Raben, der ihr in diesem Moment als der schönste Rabe erschien, den sie je gesehen hatte.

Raka warf ihr einen schrägen Blick zu. "Glaubst du, ich lasse mich freiwillig von Dornen aufspießen? Mein Bedarf an Leiden ist gedeckt. Schließlich leite ich die Abteilung WITZ & KOMIK."

Bei dem Wort Leiden verging Nikas Glücksgefühl augenblicklich. Ihr fiel das Ereignis wieder ein, das den Raben ohne Zweifel hierhergebracht hatte. Sie schluckte.

"Hat Hull dir gesagt, was passiert ist?"
Raka verlagerte ächzend sein Gewicht und machte zwei Schritte vorwärts, wobei er in die lockere Erde einsank. Er fluchte. "Blöde Gartenkultur. Möchte mal wieder ein ordentliches Feld unter den Füßen haben. Ja, ein bewegter Morgen heute. Rauschendes Leben auf allen Kanälen." Vorsichtig zog er den rechten Fuß aus der Erde und betrachtete ihn.

"Was hat er von mir gesagt?" fragte Nika drängend. "Er muß doch was von mir gesagt haben."

Raka seufzte. "Dumme Nudel!" sagte er.
Nika sah ihn fassungslos an. "Das hat Hull gesagt?"
"Das habe ich gesagt", sagte Raka beleidigt. "Meine Meinung ist wohl nicht gefragt."
"Aber er, hat er, ich meine, hat er nicht gesagt, dass ich versagt habe?" stotterte Nika.
Raka warf ihr einen weiteren schrägen Blick zu. "Er hat gesagt, es geht ihr nicht gut, flieg mal hin."

"Aber ich habe doch alles falsch gemacht", sagte Nika verwirrt.
"Falsch und richtig, davon verstehe ich nichts", sagte Raka mürrisch. "Man will das eine, und das andere kriegt man. Wer weiß schon die Gründe. Ich weiß sie nicht."

"Aber ich habe schon wieder zwei Menschen zu Dichtern gemacht", erklärte Nika.
"War's Absicht?" fragte Raka.
"Nein", beteuerte Nika.
"Also bitte", sagte Raka. "Keine Probleme." Er gähnte. "An manchen Tagen geht alles schief, weiß der Geier. Bei uns sind zwei Spatzen in Ohnmacht gefallen. Kreislaufprobleme. Es muß in der Luft liegen."

"Dann ist also alles in Ordnung?" rief Nika und hielt sich schnell die Hand auf den Mund. Aber im Haus blieb alles still; niemand schien sie gehört zu haben.

"Mir hat keiner was von Unordnung gesagt", knurrte Raka. "Also wird's wohl in Ordnung sein." Er gähnte noch einmal ausgiebig.

"Das war's wohl", sagte er. "Auftrag ausgeführt, Kind beruhigt. Ach so."
Er blieb stehen, und sofort sanken seine Füße wieder ein. Er gab einen knurrenden Laut von sich.

"Botschaft von Hull, hätte ich fast vergessen. Morgen früh im Hauptquartier, du kennst den Weg. Pünktlich. Und denk an das Erkennungszeichen: Huuuuh!"

Er schwankte davon.
"Raka", rief Nika leise. "Warum soll ich kommen? Hat Hull das gesagt?"
"Neuer Auftrag", krächzte Raka, ohne sich umzuwenden. "Komplizierte Geschichte. Wirst du noch früh genug erfahren."

Nika sah ihn durch den Garten wandern, wobei er sorgfältig allen Rosenbüschen auswich. Einmal war ihr, als hörte sie ihn husten, aber weil der Tag voller Geräusche war, konnte sie sich auch geirrt haben. Sie sah ihm nach, bis er weit hinten im Garten um die Bohnenstangen bog, und fragte sich, wie er aussehen mochte, wenn er abhob: ein großer, alter weißer Rabe, der in den blauen Sommerhimmel flog.