aus: Geo Saison Nr. 6/1990
von Margrit Irgang ©

Der Himmel über Quilon sieht aus wie eine Perle, in der sich die Farben der Umgebung spiegeln, ein bisschen Blaugrau vom Fluss, ein bisschen Ocker an den Rändern, das Ocker der sandigen, unbefestigten Straßen der Stadt. Es ist sieben Uhr morgens. Noch ist die Sonne zu ertragen, und das Wasser im Hafenbecken scheint sogar ein wenig Kühle zu verströmen. Das Frachtboot, das um sieben Uhr fünfzehn auslaufen soll, ist erst zur Hälfte beladen. Wir werden um acht Uhr abfahren, vielleicht auch erst um halb neun. Die Zeit hat in Indien eine andere Beschaffenheit; im Westen ist sie ein straff gespanntes Seil von hier nach dort, in Indien ein Gummiband ohne Anfang und Ende. In dieser dehnbaren Zeit bringen die Inder all das unter, was unbedingt stattfinden muss, und alles übrige ist ohnehin überflüssig.

Ich sitze auf meinem Seesack, ganz vorne am Kai, um mich herum die Inder in ihrer entspannten Hockstellung, die Füße flach auf dem Boden, den 0berkörper freischwebend knapp über den Fersen. Es sind junge und alte Männer, die ein Tuch um die Hüfte tragen, den traditionellen Lunghi, ein paar Frauen in verblichenen Baumwollsaris und zwei Kinder, ein Mädchen mit steif abstehenden Zöpfen und ein Junge in zerrissenen Höschen. Sie erwarten die Abfahrt ohne Ungeduld.

Ich bin schon ein paar Wochen in Indien unterwegs und habe begriffen, dass Inder zwar sanft sind, dass sie sich Höflichkeit aber nicht leisten können in diesem Land, in dem der Einzelne nur den Platz hat, den er sich selbst erkämpft. Ich habe mich deshalb direkt neben der jetzt noch hochgezogenen Eingangsbrücke niedergelassen. Das Frachtboot wird inzwischen mit Kisten, Kartons und Bündeln beladen, und auch die wartenden Inder sind von Körben und verschnürten Ballen umgeben. Was tun all diese Menschen mit so viel Gepäck in den winzigen Urwalddörfern längs der Kanäle von Kerala, die wir anlaufen werden? Vater und Mutter besuchen, Waren abliefern, einen Handel abschließen? Über Quilon hängt jetzt ein Schleier aus Staub und Rauch; das brackige Wasser des Flusses beginnt Modergeruch auszuschwitzen. Es ist heiß geworden, bewegungslos steht die Luft über dem Kai. Acht Uhr fünfzehn. Da schrillt die Glocke.

Wie ein aufgescheuchter Schwarm dunkler Vögel fallen die Inder über das Boot her, springen über die Reling und rennen mit bloßen Füßen über die Planken; sie gehorchen dem Zwang der Umstände, aber im nächsten Moment haben sie sich schon niedergelassen auf den Bänken, dem Schiffsdach, am Heck, am Bug, die Beine untergeschlagen, den Rücken an ihre Bündel gelehnt. Mein Instinkt hat mir einen Platz an der Reling beschert, neben der Inderin mit den zwei Kindern; zu meinen Füßen ein lebendes Huhn im Käfig. Die Holzbank ist hart, der Motor dröhnt, das Boot, die Holzbank und mein Körper beginnen im Rhythmus der Maschine zu zittern, aber wie könnte ich mich beklagen, wo ich doch in Kerala bin, dem südwestlichen Zipfel des indischen Kontinents, dieser kleinen grünen Oase in einem Land, dessen Farben das Ocker und das Braun von Sand, verdorrtem Gras und unerschöpflichen Mengen an Staub sind.

Die Stimme Südindiens

Gleich hinter Quilon wird das Wasser klar und dunkelgrün, flache, grasige Ufer säumen den Kanal. Die ersten kleinen Palmen sind zu sehen, dazwischen hier und da eine Hütte, das Dach mit Stroh oder roten Ziegeln bedeckt, die offene Seite dem Wasser zugewandt. Zu dieser späten Morgenstunde sind noch ein paar Fischer unterwegs in ihren handtuchschmalen Einbäumen; über ihnen an dünnen Stangen hängen die Segel aus heller Baumwolle, jedes von ihnen vielfach geflickt und zusammengestückelt. Im Gegenlicht entfaltet sich über dem Wasser eine Ausstellung von wundersamen textilen Objekten aus Fläche und Naht, Ruhe und Bewegung. Aus einer dichten Palmengruppe tauchen Kinder auf und winken. Nichts außer ihrer Anwesenheit verrät, dass da eine Ansiedlung ist, sie scheinen aus den Bäumen gefallen zu sein, angelockt von dem Boot, dessen tägliche Ankunft zu ihrem Lebensrhythmus gehört, obwohl es bei ihnen nie anlegen wird.

Auf dem Boot wird es inzwischen gemütlich; im Fahrtwind unter dem Sonnensegel ist es angenehm frisch, und um mich herum wird Proviant ausgepackt, Bananen und kleine süße Kuchen. Das Huhn zu meinen Füßen starrt mich an. Wird es an seinem Bestimmungsort dort irgendwo im Urwald in einer Hühnerschar landen oder im Kochtopf?

Auch die Inder auf dem Boot lassen mich nicht aus den Augen. Ich trage diesen magischen Bannkreis des Fremden mit mir herum, der nur in den großen Städten durchbrochen, hier auf dem Land aber noch respektiert wird. Es sind die Kinder, die sich als erste langsam näher schieben. Der Jugne hält ein kleines Kofferradio umklammert; es sieht aus, als würde er seinen Besitz bis an die Zähne verteidigen, aber vorzeigen muss er ihn auch. Eine schwierige Situation. Dann siegt sein Stolz. Er tippt mir auf den Arm. Lächelt. Ich lächle auch. Er dreht am Knopf und hält mir den kleinen Kasten ans Ohr. Und aus dem Rauschen des Ozeans steigt eine weit entfernte Stimme an mein Ohr, die Englisch spricht und sagt, sie sei der Rundfunk der Seychellen, und ich höre, dass in Nordindien eine Kältewelle herrscht. Der Junge strahlt. Er hat kein Wort verstanden, aber eins weiß er: Er hat die Welt in seinem Kästchen - mitten im Urwald die Welt!

Und dann - so schnell, dass ich gar nichts begreife - springt er auf und alle andern dazu, der Bootsmotor fällt in ein tiefes Blubbern, und Taue werden ans Ufer geworfen: Wir legen zum ersten Mal an. Die Dorfbevölkerung ist zusammengelaufen, ein paar Aussteigende werden wie lange Verschollene begrüßt, während ein paar Abreisende gleichzeitig über die Planke drängen. Vom Bootsdach werden verschnürte Gepäckstücke heruntergeworfen.

Benommen stehe ich auf der kleinen Lichtung zwischen den Palmen. Wo bin ich? Hat dieses Dorf einen Namen? Jetzt, wo der Motor schweigt, höre ich wieder die Stimme Südindiens, diese Sinfonie aus menschlichen Reden, Rufen und Lachen und dem langgezogenen sehnsüchtigen Ton des Urwaldvogels, den ich nie gesehen habe. Ich höre die vertrauten Rufe der Händler: Chapatti, Chapatti! Chaiachaiachaiaaaa! Und da sind sie auch schon, die kleinen Jungen, die überall auf flachem Feuer Pfannkuchen backen und den zuckersüßen Milchtee kochen. Andere bieten mir in Bananenblätter gewickelten gekochten Reis an und Leckereien wie Halwa und Barfis. Aber ich bin im Süden des Landes, hier muss ich mich der Händler nicht erwehren; eine freundliche Ablehnung genügt, und sie wenden sich ab. Mir fällt ein Satz wieder ein, den ich - aber von wem nur? - gehört hatte: „Das Klima, Ma'am, das Klima ist an allem schuld.”

Die Fahrrinne ist jetzt schmaler geworden, der Urwald an beiden Ufern dichter. Selten nur sind Hütten zu sehen. Vor ihren Eingängen stehen ruhig die Frauen und schauen dem Boot nach; sie stehen dort im Urwald, wie Frauen überall in der Welt vor ihren Haustüren stehen, die Sicherheit ihres Besitzes im Rücken, und betrachten gelassen die Welt, die an ihnen vorüberzieht. Auf dem Boot wird Mittagsschlaf gehalten. Das Huhn im Käfig fehlt, es muss wohl ausgestiegen sein. Schweigen um mich herum. Das Klima, das Klima.

Alles Reisen ist ein Fahren auf dem Kanal

Auf einmal fällt mir ein, wer den Satz gesagt hatte. Er war der Sohn eines Engländers und einer Inderin, der seit dreißig Jahren dort unten am Ende des Subkontinents lebte, der Besitzer jenes Hotels in Kovalam Beach, wo Indien zu Ende ist und das nächste Festland, weit hinter dem Ozean, Australien heißt. Er hatte sich gegen zehn Uhr abends anmelden lassen von einem seiner mürrischen Küchenjungen: „Boss will come.” Und dann kam der Boss und war von Kopf bis Fuß englische Etikette, das heißt: das, was die Tropen von ihr übriggelassen hatten. Er trug einen verblichenen Leinenanzug und eine Brille mit Goldrand. „Darf ich Sie zu einem Drink einladen?” sagte er und stellte eine Flasche edlen Scotch auf die Verandabrüstung. Als er einschenkte, zitterte seine Hand. Ich setzte mich auf den angebotenen Korbstuhl, und als ich mich anlehnte, brach ein Rohr und bohrte sich mir zwischen die Schulterblätter. „Dies ist ein gutes Hotel, Ma'am”, sagte er. „Das größte in Kovalam Beach. Zwanzig Zimmer.” „Und alle leer”, sagte ich.

Er starrte in den verwahrlosten Garten hinaus. Die Temperatur war dieselbe wie mittags um zwölf. Mir klebte das Kleid am Körper. „Sie verstehen nicht, Ma'am”, sagte er. „Sie kommen und gehen. Ich muss bleiben. Haben Sie die Termiten gesehen? Sie fressen mein Hotel von unten auf. Ich muss bleiben, bis der Urwald mein Hotel vernichtet hat.” Er gab ein trockenes, brüchiges Geräusch von sich, ich dachte: der Rest eines Lachens aus sehr früher Zeit, damals, bevor die Tropen ihn sich geholt haben. „Warum tun Sie nichts dagegen?” fragte ich. Er sah mich an, seine Lider waren geschwollen. „Ich habe keine Leute”, sagte er. „Sie sind an Disziplin nicht gewöhnt. Man befiehlt ihnen etwas, und vielleicht tun sie es. Vielleicht auch nicht. Das Klima, Ma'am. Das Klima macht müde und alt. Aber das verstehen Sie nicht.”

Ich dachte: Sie haben unrecht, Mister Chanders. Ich verstehe es. Wer ein Bewohner der Tropen ist, wird unmerklich verwandelt, geht von einem menschlichen in ein pflanzliches Dasein über, in diesen gleichmütigen Zustand des Wachstums auf der Stelle; nur an winzigen Bewegungen ist abzulesen, dass da noch Säfte treiben, dass da noch ein Prozess stattfindet von Blühen und Welken, von Leben und Sterben. Ich verstehe, dass der Übergang von einem Dasein zum anderen nur ein Moment ist, und dass es nach diesem Moment kein Zurück mehr gibt. Sie, Mister Chanders, haben diesen Moment verpasst.

Die Sonne hat den Zenit überschritten, auf dem Boot erwachen die Schläfer. In Kürze werden wir das zweite Mal anlegen und dann noch ein drittes Mal, bevor wir gegen Abend Alleppey erreichen werden. In diesen zehn Stunden werde ich einen winzigen Ausschnitt von Indien gesehen haben, achtzig Kilometer aus dem siebtgrößten Land der Erde. Ich berühre den Urwald an seinen Rändern, ich begreife nicht, was in ihm vorgeht, aber ich sehe: In ihm wird gelebt.

Die dunkle Welt dort hinten schickt ab und an einen Boten ans Ufer. Ein Mann schlägt den Hammer auf ein Stück Blech: Was baut er zusammen, oder nimmt er etwas auseinander? Nach zehn Minuten schon wieder ein Mensch: Eine alte Frau sitzt unbeweglich im Sand, einen Säugling im Arm. Irgendwann plötzlich ein Boot in einer Bucht, leuchtend rot und gelb gestrichen. Ich komme und gehe. Mister Chanders, darin hatten Sie recht. Alles Reisen ist nur ein Fahren auf dem Kanal; man berührt Ränder und sieht Zeichen eines Lebens, das man nie kennen wird.

Aber da wird der Bootsmotor gedrosselt, gleich werden wir anlegen. Drüben am Ufer laufen sie zusammen, ich strecke meinen durchgerüttelten Körper und freue mich auf das, was mich erwartet: die Blicke der Kinder, das Rufen des Urwaldvogels, frische Pfannkuchen und süßer Tee.

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