Leseprobe

von Margrit Irgang
aus: Publik Forum Extra 2/08

Ich war Mitte zwanzig, als ich Ulrike und ihrer Tanz-Kompanie begegnete. Unter Tanz verstand ich damals klassisches Ballett; Damen und Herren auf Spitzenschuhen mit durchtrainierten Körpern, die immer ein wenig angestrengt wirkten. Die Gruppe um Ulrike dagegen zeigte etwas, was ich noch nie gesehen hatte.

Sie trugen verwaschene Schlabberhosen und über den Tanzschläppchen Socken, von denen sie die Fersen und Spitzen abgeschnitten hatten. Damit schienen sie zu sagen, dass Tanz für sie nichts anderes war als das normale Leben. Ihre Bewegungen auf der Bühne waren auch ganz alltäglich: Gehen, Rennen, Springen, Robben. Aber sie taten das alles bewusster als ich. Die mir vertrauten Bewegungen drückten auf einmal Gefühle aus, fügten sich zum Bild, und das Bild wurde zu einer Aussage. Die Körper nahmen keine vorgeschriebenen Positionen ein, sondern sprachen miteinander, fragten und antworteten. Ulrike lud mich zu ihrem Workshop ein. Ich schnitt von einem Paar Socken Fersen und Spitzen ab und ging hin.

Dehnen, Strecken. Anspannen und loslassen. Atmen, atmen. Ich lernte gleich die erste Lektion: Ohne Training und Disziplin wird aus Gehen und Laufen kein Tanz. Aus einer Laiin Mitte zwanzig wird natürlich keine Tänzerin mehr; das war aber auch nicht mein Anliegen. Mein Körper knackte an nie bemerkten Stellen, meine Muskeln schmerzten. Gerade wollte ich aufgeben, da begann Ulrike mit der Improvisation.

Martha Graham, die Pionierin des Modern Dance, sagte: „Tanzen zu lernen heißt, in der Fülle der Eindrücke und Wahrnehmungen zu leben. Es heißt, jeden Augenblick mit dieser hohen nervlichen Sensitivität zu leben und dadurch zu erkennen, wer wir sind.” Erst viele Jahre später begriff ich, warum ich mich fast zwei Jahre lang mit Tanz-Improvisation beschäftigt hatte, obwohl ich lieber Bücher las, als ich mich zu bewegen: Ich hatte dort die hellwache Aufmerksamkeit trainiert und gelernt, das Leben als Tanz zu sehen.

Da stand ich also zwischen einer Handvoll Menschen, die ich nicht kannte, in einer großen Turnhalle und fragte mich: Wie nehme ich mit denen jetzt Kontakt auf, ohne zu sprechen? Probierte eine Handbewegung, einen Blick, eine Drehung des Körpers zum anderen hin. Der antwortete mit einer überraschenden Geste, die ich nun wieder aufnehmen und weiterführen musste. Auf einmal schaltete sich eine Dritte ein, und da kam schon der Vierte ...

Man nennt das Kommunikation, und wenn sie bewusst ausgeübt wird, ist sie eine Kunstform. Leider erfolgt sie meistens unbewusst. Wer am Rand einer Gesellschaft steht und die Beziehungen der Menschen untereinander beobachtet, sieht sofort: Das Wesentliche zwischen ihnen wird nonverbal ausgedrückt, in den ersten Sekunden des Aufeinandertreffens. Da verhaken sich Blicke ineinander oder schweifen ab, und ein Körper spricht in einer Vierteldrehung von Anziehung oder Verachtung. Gesagt allerdings wird etwas anderes, und der Moment der Wahrheit, die der Körper ausgedrückt hat, geht, von den Beteiligten unbemerkt, vorüber. Was sich, wie wir alle wissen, irgendwann rächen wird.

Aber die Beziehung zu Menschen ist ja nur ein Teil unseres Lebens. Ihr habt da hinten eine tote Ecke! rief Ulrike, und wir stellten erschreckt fest, dass es auch noch den Raum gab, den wir über unserer zwischenmenschlichen Kommunikation vergessen hatten. Beim Tanzen kann man eindrücklich lernen: Tote Ecken wirken. Manche haben den Bermuda-Dreieck-Effekt, in ihnen verschwindet etwas, meistens Energie. Andere beherrschen penetrant die Szene, obwohl das in der Choreografie nicht vorgesehen ist. Die toten Ecken in meinem Leben sind all das, was ich nicht wahrhaben oder nicht erledigen will, und deshalb entziehe ich diesen Dingen meine Aufmerksamkeit. In solchen Momenten habe ich vergessen, was das Tanzen mich gelehrt hat: Der Raum, der mir zur Verfügung steht, kann winzig oder groß sein, aber er muss in seiner Ganzheit bespielt werden. „Raum” im Leben könnte konkret meine Wohnung sein, aber auch meine Familie, meine Arbeit, die Gemeinschaft, der ich angehöre. Hier darf nichts übersehen werden, die Aufmerksamkeit muss bis in alle „Ecken” reichen, so dass ein Bild entsteht, das in sich stimmig ist. Übrigens muss eine leere Ecke keine tote Ecke sein; es geht hier nicht um Möblierung, sondern um Energie.

Als unsere Ecken endlich nicht mehr tot waren, wurde uns gesagt, wir müssten auch den Boden einbeziehen, zum Beispiel durch Hinlegen oder Fallen. Fallen??! Das war nun eine wichtige Lektion: Ich lernte, dass das Zu-Boden-Gehen nichts mit Niederlage zu tun hat, weil das anmutige Wiederaufstehen eine Bewegungsform ist, die das ganze Bild verändert. Und wenn mir im Leben diese Erkenntnis wieder einmal abhanden kommt, halte ich mich an die Tänzerin Amanda Miller, die zu sagen pflegt: „Fehler sind besser als alles, was ich erfinden könnte.”

Bei der Tanz-Improvisation - und im täglichen Leben - sind ständig Entscheidungen zu treffen. Gehe ich quer durch den Raum, renne ich, schiebe ich mich an der Wand entlang? Wenn ich nicht als Solistin tanze, muss ich unablässig auf meine Mittänzer bezogen sein. Die Antwort liegt in der Gruppe und nicht in meinem Ego. Tänzer fangen die winzigsten Veränderungen im Gesamtgefüge auf, selbst im Rücken scheinen sie noch Augen zu haben. Aus ihrer Wachheit und Konzentration und ihrem geschulten Körper steigt dann die Intuition, die sie leitet. „Tanz ist etwas Absolutes”, sagte Martha Graham, die zum Entsetzen ihrer Familie mit drei Jahren spontan in einer Kirche tanzte. „Er ist nicht das Wissen über etwas, sondern das Wissen selbst.” Auf diese Weise ausgeübt, wird Tanz zu einer spirituellen Praxis, die uns in transzendentale Räume tragen kann.

Irgendwann hörte ich auf zu tanzen und wandte mich nun auch konkret dem von mir seit langem geliebten Zen zu und seiner schlichten Anweisung: Wenn du gehst, dann geh! Die Achtsamkeit auf das, was im Augenblick geschieht, hatte ich ja geübt. „Oh, das ist wie Tanzen!” sagte ich entzückt zu meinem damaligen Zenmeister. Er schwieg höflich. Ich dachte nachsichtig: Er hat nie mit einer Katze getanzt.

Es war in einer Sommernacht auf einer römischen Terrasse. Die Katze hieß Clarissa. Sie begann mit einer spielerischen Erkundung meiner Zehen. Ich antwortete, indem ich über sie hinwegsprang. Sie wirbelte herum, ich auch. Sie war von Schnurrhaar bis Schwanz hochgespannte Wachsamkeit, ich antwortete mit meiner Aufmerksamkeit. Auf den Balkonen wurde getrunken und gelacht, irgendwo heulte eine Autosirene, am Himmel flog ein Flugzeug. Clarissa und ich tanzten die Nacht, den schweren Duft der Blüten und mein Alleinsein in dieser Stadt, das sich - ich hatte ja jetzt eine Tanzpartnerin - in eine schwebende große Blase verwandelte, in der dieser ganze Moment mit all dem Gläserklirren, Gelächter und den Autosirenen Platz hatte. In jener römischen Sommernacht habe ich zum ersten Mal wirklich getanzt, so, wie es William Forsythe beschreibt: „Nicht wissen, sondern es dem Körper überlassen, dich zu tanzen.” Weil da kein Ich mehr war, das über den nächsten Schritt nachdachte, und kein Körper mehr, den ich kontrollierte, öffnete sich der Raum. Und er hatte keine einzige tote Ecke.

Ulrike ist heute Bildende Künstlerin, ich habe mich der Literatur zugewandt. Wir haben unsere künstlerischen Ausdrucksmittel geändert, aber der Tanz ist unsichtbar in unserer Arbeit vorhanden. Und manchmal ist sogar mein Alltag ein Tanz, das Abwaschen wie das Fensterputzen, das Feiern wie das Trauern. Vielleicht war es das wahre Anliegen der großen Martha Graham, ihre Schülerinnen und Schüler zu Lebens-Tänzern zu machen. „Anmut”, sagte sie, „ist deine Beziehung zur Welt: die Schönheit, die deine Freiheit, deine Disziplin, deine Konzentration und deine vollständige Achtsamkeit dir geschenkt haben.”

Margrit Irgang ist Schriftstellerin und Meditationslehrerin. Sie schreibt Romane, Erzählungen, Essays, Hörspiele und Bücher über Zen, zuletzt: „Zen-Buch der Lebenskunst” und „Dieser Augenblick”.

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