SWR 2 Meinung, 10.11.2007
Die Kunst des guten Sterbens - abschiedlich leben als Ausdruck von Weisheit
von Margrit Irgang ©

In dem berühmten Proustschen Fragebogen - der so heißt, weil Marcel Proust der Erste war, der ihn beantwortete - findet sich unter anderem die Frage: Wie möchten Sie gern sterben? Zahlreiche prominente Zeitgenossen haben jahrelang auf Einladung der FAZ darauf geantwortet; die häufigste Antwort lautete sinngemäß: „Ohne lange zu leiden”. Die Mehrheit will „im Kreis der Familie” sterben, „zufrieden” oder „möglichst alt”, und die Geigerin Anne-Sophie Mutter möchte gar sterben, „ohne es zu merken”. Eine kleine Umfrage im eigenen Bekanntenkreis zum selben Thema brachte mich gleich in den Verdacht, „morbide” zu sein und eine bislang gut verborgene „Todessehnsucht” zu verraten. Denn welcher gesunde, voll im Erwerbsleben stehende Mensch würde sich - so die unausgesprochene Annahme - freiwillig mit seinem Sterben befassen? Jetzt wird erst einmal gelebt, so intensiv und lange wie möglich! Irgendwann wollen sich diese Menschen ermattet niederlegen, ihr - natürlich erfolgreiches - Leben an sich vorüberziehen lassen und sehen: Es war gut. Sie werden von der Familie, die sich liebevoll um ihr Bett versammelt hat, Abschied nehmen und sanft entschlafen, „ohne es zu merken”. Ein Sterben also, mit dem sie selbst nicht viel zu tun haben. Und deshalb brauchen sie sich auch keinen Fragen nach dem Warum und Wohin und gar der Angst vor dem, was ihnen bevorsteht, zu stellen. Ein praktischer und zeitgemäßer Tod wäre das: Unser Ich wird von der eingebauten Zeituhr wie ein Computer heruntergefahren und mit einem Klick ausgeschaltet. Eins darf als sicher gelten: So wird das Sterben für die meisten von uns nicht ablaufen.

Wir gewöhnen uns allmählich an den Gedanken, lebenslang Lernende zu sein. Die immer höheren Anforderungen im Beruf zwingen uns dazu, ständig neue Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben und die alten zu verfeinern. Es hat sich auch herumgesprochen, dass die Fähigkeit, befriedigende Beziehungen und bereichernde Kommunikation herzustellen, uns nicht angeboren ist, sondern gelernt werden will. Wenn wir ein Kind erwarten, besuchen wir als verantwortungsbewusste Frauen einen Geburtsvorbereitungskurs. Nur in ihre Sterbestunde gehen viele Menschen völlig unvorbereitet in der Hoffnung, das Ganze möge schnell und schmerzlos vonstatten gehen. Damit aber geben sie die Verantwortung ab für einen der wichtigsten Momente ihres Lebens, den sie noch nicht einmal als bedeutsam wahrnehmen. Ich behaupte deshalb: Uns westlichen Menschen am Beginn des 21. Jahrhunderts fehlt eine Sterbekultur.

Wer regelmäßig Zeitungen und Zeitschriften liest, wird jetzt vermutlich widersprechen. Da ist doch seit einigen Jahren vom Pflegenotstand die Rede, wird die - häufig mangelhafte - Qualität von Altenheimen diskutiert und die Überforderung der Angehörigen, die sich auf die häusliche Pflege eines Schwerstkranken einlassen. Es wird von der seit 1. April 2007 gesetzlich verankerten Palliativversorgung für, wie es dezent heißt, Versicherte mit „begrenzter Lebenserwartung” berichtet. Auch das Thema „selbstbestimmtes Sterben in Würde”, wohinter sich das bewusste Trinken einer Giftmischung verbirgt, hat manche durchaus gute Reportage ergeben. Und gelegentlich bekommen auch die segensreichen Hospize die ihnen zustehende mediale Aufmerksamkeit.

All das ist wichtig und richtig, über all das soll berichtet werden. Und doch unterscheidet sich nach meiner Meinung der Inhalt dieser Berichterstattung nur unwesentlich von den Antworten im Proustschen Fragebogen. Das Ende des Lebens wird zunehmend zu einer Verwaltungsaufgabe, die es effektiv zu organisieren gilt. Schmerzlos und optimal gepflegt soll der Sterbende hinübergleiten, und wenn es trotz allem unerträglich wird, bestimmt er selbst seine Sterbeminute. Der Tod aber ist etwas anderes als die Dunkelheit, die erscheint, wenn der Lichtschalter ausgeknipst wird. Der Tod ist ein Mysterium, und der Augenblick des Übergangs war zu allen Zeiten ein besonderer, auf den man sich gut vorzubereiten hatte.

Das Christentum kannte im Mittelalter die ars bene moriendi, die Kunst des guten Sterbens. Ein plötzlicher, gar im Schlaf eintretender Tod war deshalb wenig wünschenswert. Mit Hilfe von Bildern wurden den damals zumeist leseunkundigen Menschen die Versuchungen durch die Mächte der Finsternis gezeigt, die in der Todesstunde zu erwarten waren. Sie erfuhren aber auch, wer ihnen zuverlässig beistehen würde: Mutter Maria, die Heiligen und Gottvater und Sohn. Die Versuchungen hatten vor allem mit Behaltenwollen und Anhaften zu tun - an Hochmut, Ungeduld, Verzweiflung und zeitliche Güter -, die Tröstungen verwiesen dagegen auf die Notwendigkeit, vertrauensvoll loszulassen. Es dürfte klar sein, dass diese ars moriendi keine Anweisung für die Todesstunde war. Man musste sich schon eingehend mit ihr befasst haben, um im entscheidenden Augenblick von ihr profitieren zu können. Bereits zu Lebzeiten musste man den Glauben stärken und die Versuchungen erkennen, um ihnen nicht mehr zu erliegen. So wurde die ars moriendi zu einer ars vivendi , einer Lebenskunst.

Die Beziehung zur Transzendenz ist den meisten modernen Menschen nicht mehr selbstverständlich. Wir haben die Mächte der Finsternis als innere Kräfte und Projektionen entlarvt, damit aber gleichzeitig den Trost durch himmlische Mächte unmöglich gemacht. Das Christentum wird gerade noch für die Gestaltung einer stimmungsvollen Beerdigung bemüht; dass es Hilfreiches zu einer Kultur des Sterbens beitragen könnte, glauben heute die wenigsten Menschen. Und völlig fern dürfte den meisten die Regel des heiligen Benedikt sein, in der er seine Mönche anweist, sich täglich den eigenen Tod vor Augen zu führen. Der zur Zeit im Westen so beliebte Buddhismus - der vielleicht deshalb solchen Zuspruch findet, weil seine Tiefe und sein Anspruch gar nicht begriffen werden - kennt jedoch dieselbe Anweisung, und keineswegs nur für Nonnen und Mönche.

Der zu Recht hoch geschätzte Dalai Lama spricht in seinen Vorträgen gern von einer „säkularen Ethik”, die er für wichtiger hält als religiöse Rituale. Zehntausende lauschten im Sommer in Deutschland seinen Vorträgen; ein Zulauf, der zeigt, dass für eine solche säkulare Ethik bei uns offenbar ein Bedürfnis besteht. In einem Interview erzählte der Dalai Lama, er versenke sich, neben anderen anspruchsvollen Meditationen, jeden Morgen in die fünf buddhistischen Kontemplationen. Diese sind von unüberbietbarem Pragmatismus und lauten wie folgt:

  1. Es ist meine Natur, alt zu werden. Es gibt keinen Weg, dem Altwerden zu entgehen.
  2. Es ist meine Natur, krank zu werden. Es gibt keinen Weg, dem Krankwerden zu entgehen.
  3. Es ist meine Natur, zu sterben. Es gibt keinen Weg, dem Tod zu entgehen.
  4. Alles, was mir wertvoll ist, und jeder, den ich liebe, wird sich von Natur aus verändern. Ich werde von allem getrennt werden, dem kann ich nicht entgehen.
  5. Mein einziger Besitz ist die Wirkung meiner Taten in Körper, Rede und Geist.

Dies sind nicht unbedingt religiöse Aussagen; hier werden schlichte Tatsachen mitgeteilt. Wir und alle unsere Lieben sterben, weil wir geboren wurden: Das ist unsere Natur. Solange wir diese Tatsache nicht bejaht haben, werden wir ein Leben führen, das von der unbewussten Angst vor dem Tod bestimmt ist. Wieviel Angst vor dem Verfall, also dem Sterben, verbirgt sich zum Beispiel in unseren Schönheitsoperationen und den extremen Formen von Fitness- und Diätenwahn? Und wenn mir wieder mal jemand erzählt, dieser oder jener an Krebs Erkrankte habe sich die Krankheit durch sein falsches Denken und Verhalten zugezogen, dann weiß ich: Hier hofft wieder einer, dass er es besser machen und folglich nicht sterben wird. Die ars vivendi dagegen akzeptiert jede Veränderung als Ausdruck des Lebens, von dem der Tod ein Teil ist. Und doch bringt uns dieses Wissen keinen Verlust, sondern eine Bereicherung: Wir begreifen, dass jeder Augenblick kostbar ist.

Abschiedlich zu leben ist ein Ausdruck von Weisheit. Das Akzeptieren unserer Endlichkeit ordnet vielleicht die Prioritäten neu, setzt bislang als unwichtig Betrachtetes an die erste Stelle, während die scheinbar großen Angelegenheiten an Bedeutung verlieren. Auch unsere Beziehungen bekämen eine neue Qualität: Es wäre dann nicht mehr selbstverständlich, dass dieser und jener Mensch noch unser Leben teilt.

Wann, wo und auf welche Weise wir einst sterben werden, wissen wir nicht. Aber vielleicht verliert diese Frage auch an Wichtigkeit, wenn wir, und sei es noch so spät, durch die Beschäftigung mit dem Tod das gewonnen haben, was nur durch seine Existenz erfahrbar ist: Unser bewusst gestaltetes, endliches Leben.

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